Eine Sache die jedem Indien-Reisenden, der zum ersten Mal das Land bereist sofort auffällt, ist der chaotische Straßenverkehr. Wer öfter nach Indien reist, der gewöhnt sich allmählich an das Chaos auf Indiens Straßen und denkt kaum weiter darüber nach. Kühe liegen im dichtesten Verkehr. Wo es zwei Spuren gibt, fahren vier Fahrzeuge nebeneinander, mindestens. Bürgersteige gibt es nicht und zwischen den Autos wedeln Motorradfahrer hin und her. Wenn man erst mal den ersten Schritt gewagt hat und sich todesmutig in den Verkehr gestürzt hat, ob als Fußgänger oder Autofahrer, gewöhnt sich schnell dran. Bald wedelt man genauso geschickt zwischen anderen Verkehrsteilnehmern durch wie die Einheimischen. Man kurvt um eine Kuh Herde oder hupt einen Motorradfahrer auf die Seite, während man im Geist die Einkaufsliste durchgeht oder seinen Lieblingssong über Bluetooth hört. Es geht einem in Fleisch und Blut über.

Eine Sache an die ich mich in all den Jahren jedoch nie gewöhnen konnte und die bei mir immer noch Kopfschütteln hervorruft, ist das mangelnde Sicherheitsbewusstsein der Inder im Straßenverkehr. Es mag Ausnahmen geben (meistens Inder die im Ausland gelebt haben oder zumindest viel gereist sind), aber das Gros telefoniert ungeniert während des Fahrens, egal ob er ein Auto oder einen Roller steuert, der Helm baumelt lässig am Lenkrad des Zweirads und den Sinn des Anschnallgurts hat kaum ein Autofahrer je verstanden.

Theoretisch ist das alles illegal. Es gibt auch in Indien Gesetze die das Telefonieren am Steuer verbieten, den Fahrer eines Zweirads zum Helmtragen verpflichten und ein Anschnallgebot zumindest für die beiden Vordersitze im Auto. Das es hier auch bei der Gesetzgebung Lücken gibt, steht außer Frage. Die Helmpflicht gilt in Indien nur für den Fahrer eines Zweirads, nicht für seine Beifahrer und in Indien sitzen oft vier oder mehr Personen auf einem Motorrad. Diese sind jedoch gesetzlich nicht verpflichtet einen Helm zu tragen.

Auch die Anschnallpflicht beschränkt sich auf die Vordersitze im Auto. Die Personen auf der Rückbank müssen sich nicht anschnallen. Das gab es so freilich auch in Europa. Ich erinnere mich noch an Mietwagen in Spanien (alte Seat Pandas mit Sitzen aus Alugestängen und Segeltuchbespannung) die keine Sitzgurte auf der Rückbank hatten. Das kam erst später.

Die größte Geißel im Straßenverkehr ist meiner Meinung nach das Handy. Der Autofahrer der langsam mitten auf der Straße fährt – er telefoniert gerade! Der Motorradfahrer der seltsame Schlangenlinien veranstaltet – er hat das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt oder fährt ganz ungeniert mit einer Hand. Es gibt sogar Leute die während des Fahrens auf ihr Handy starren. Letzens kam mir einer von diesen entgegen und zwar schräg genau auf mich zu. Ich hupte und der Kerl sah erschrocken hoch und bremste gerade noch rechtzeitig. Da kann ich nur noch mit dem Kopf schütteln.
Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe die Menschheit zum guten Fahren zu erziehen, dass ist Sache der Politik bzw. des Gesetzgebers. Hier hilft nur der Weg über empfindliche Strafen.

Ich las kürzlich in der TOI (Times of India), dass Himanchal Pradesh eine wirklich erfolgsversprechende Strafe für das Telefonieren am Steuer eingeführt hat. Neben dem Bußgeld welches lächerlich gering ist, wird nun das Handy des Delinquenten für 24 Stunden einbehalten. Ich hoffe dass dies noch auf ganz Indien ausgeweitet wird.

All diese Vergehen sind im indischen Straßenverkehr alltäglich. Auch die Angewohnheit Kleinkinder durchs Auto krabbeln zu lassen oder unangeschnallt auf dem Vordersitz durch die Gegend zu kutschieren. Mir rollen sich die Fußnägel hoch wenn ich das mal wieder observieren kann. Ich hoffe dann immer nur, dass der Fahrer nicht mal scharf bremsen muss weil ein Hund oder eine Kuh auf die Straße springt, was in Indien nicht so selten vorkommt.

Und gelegentlich sehe ich Dinge die dem Ganzen dann noch die Krone aufsetzen und selbst mir die Sprache verschlagen.

Wenn ich meinen Sohn von der Schule abhole, dann sehe ich ab und zu ein Auto mit Sonnendach zum Aufschieben. Dazu zwei Kinder die im Fahren auf dem Vordersitz stehen und mit dem Kopf und Teil des Oberkörpers oben hinausschauen. Die sind mir schon zweimal begegnet und beim zweiten Mal habe ich kurz überlegt das Auto anzuhalten und den Fahrer zu bitten, diesen Unsinn doch bitte zu unterbinden. Ich kann mir nur vorstellen, dass ein Fahrer die Kinder von der Schule abholt. Jemand den die Kinder überreden können dies zu dulden. Ich kann es nicht über mich bringen zu glauben, dass der Vater selbst am Steuer sitzt.

Habe ich geglaubt ich habe schon alles Gefährliche im Straßenverkehr gesehen, so wurde ich letztens eines besseren belehrt. Ich holte meinen Sohn von der Schule ab. Es regnete leicht und ich überholte auf dem Rückweg ein langsam fahrendes Auto. Ich dachte zuerst, es würde auf Grund des Regens so langsam fahren, sah dann aber aus dem Augenwinkel, dass ein Kind auf der Motorhaube saß. Ich konnte es kaum glauben und musste zweimal hinsehen. Seitdem kann mich im indischen Straßenverkehr nichts mehr schocken und auch mein Glaube an die Vernunft der Menschheit ist stark erschüttert!